Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V.
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Damit Sachsen-Anhalt attraktiver für Zuwanderung wird, braucht es Visionen für ein wirklich weltoffenes Land sowie eine umfassende und allen Maßnahmen zugrundeliegende Willkommenskultur.
Angesichts zu wenig junger Frauen, zu wenigen Geburten und zu wenig Zuwanderung ist Sachsen-Anhalt von allen Bundesländern am stärksten darauf angewiesen, dass Menschen zuziehen. Die 2020 veröffentlichte Studie des Leibniz-Instituts für Länderkunde bringt es deutlich auf den Punkt: Sachsen-Anhalt muss nicht weniger tun, als sich völlig neu zu erfinden. Auch und vor allem im Bereich Zuwanderung[1]. Angesichts dieser Situation kommt den Themen Migration und Integration in der nun anstehenden Legislaturperiode mehr denn je eine Schlüsselrolle zu.
Als legitimierter Repräsentant von Menschen aus insgesamt 64 Ländern aller Kontinente und Gläubige aller sogenannten Weltreligionen in Sachsen-Anhalt wissen wir, was Migrant*innen brauchen, um gut und gerne hier leben zu können. Wir wissen, was sie brauchen, damit sie sich willkommen fühlen. Wir wissen, was sie brauchen, damit sie gut ankommen. Wir wissen was sie brauchen damit ihre Teilhabe gelingt.
Daher möchten wir den nun im Landtag vertretenen Parteien unsere 10-Punkte für ein willkommensfreundliches Sachsen-Anhalt auf den Weg geben. In den nun kommenden konstituierenden Sitzungswochen stehen wir zu diesem zukunftsweisenden Thema als Gesprächspartner bereit und freuen uns, wenn Sie mit uns gemeinsam „Willkommen in Sachsen-Anhalt“ sagen.
Punkt 1: Dezentrale Formen der Unterbringung müssen die Regelunterbringung darstellen
Gerade in Zeiten von Corona zeigt sich überdeutlich, welche Probleme die zentrale Unterbringung mit sich bringt: Isolation, Fremdbestimmung und Konflikte. Die Vorkommnisse in der ZASt vom Frühjahr 2020 haben überregional für Aufsehen gesorgt und wirken abschreckend auf viele Migrant*innen. Will man Migrant*innen für ein Leben in Sachsen-Anhalt gewinnen, müssen jegliche Formen der Massenunterbringung ein Ende haben. Dezentrale Unterbringung muss die Regelunterbringung darstellen und maßgeblich sowie handlungsleitend für alle weiteren Maßnahmen in diesem Bereich sein.
Für Erstaufnahmeeinrichtungen, die als einzige eine zentrale Form der Unterbringung auf Zeit bedingen, braucht es unabhängige Ombudsstellen, an die sich die Bewohner*innen während ihres Aufenthalt mit Anliegen, Beschwerden und Problemen wenden können.
Punkt 2: Migrationsspezifische Beratungsangebote sollten von Migrant*innen selbst durchgeführt werden
MOs führen Beratungsleistungen ausschließlich ehrenamtlich durch. Dabei unterstützen sie seit Jahren bei der Erstintegration, da sie die erste Anlaufstelle direkt vor Ort für Zugewanderte/Geflüchtete sind. Sie verfügen über entsprechende fachliche Kompetenzen, können Beratungen in der jeweils benötigen Sprache durchführen und besitzen zudem eine ausgeprägte Fähigkeit zum Perspektivwechsel durch zumeist eigene Migrations- und Integrationserfahrung. Dadurch genießen sie in der jeweiligen Zielgruppe das notwendige Vertrauen, sich in Problemlagen Unterstützung und Hilfe zu holen. Migrationsspezifische Beratung wie die gesonderte Beratung und Betreuung sowie die Migrationsberatung für Jugendliche sollten daher vorrangig bei MOs angedockt werden.
Punkt 3: Migrationsunabhängige Beratungsangebote müssen personell diversifiziert und qualifizierte Sprachmittlung bei der Beratung sichergestellt werden
Geteilte Sprache, Perspektiven und Erfahrungen erhöhen automatisch die Qualität, Effizienz und Wirkung von Beratung. Dass die Träger allgemeiner Beratungsangebote und die Hochschulen des Landes verpflichtet werden, ihre (angehenden) Sozialpädagog*innen in Interkultureller Kompetenz weiterzubilden, ist begrüßenswert. Jedoch ersetzt dies nicht die notwendige personelle Diversifizierung der Regelangebote des Landes.
Innerhalb der Beratungsstrukturen spielt Sprachmittlung bisher kaum eine Rolle. Doch ohne eine Sicherstellung der Sprachmittlung wird die Beratung und Begleitung von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht gelingen können.
Punkt 4: Die Lernrealitäten migrantischer Schüler*innen müssen viel stärker als bisher berücksichtigt werden
In Deutschland ist der Einflussfaktor der Eltern auf den Bildungserfolg der eigenen Kinder größer als in europäischen Nachbarstaaten. Wenn z.B. Sprachförderung und die Teilhabe an der digitalen Transformation durch das Elternhaus nicht gewährleistet sind, bedarf es adäquater Förderangebote für die davon betroffenen Schüler*innen. Das zeigt sich nicht erst, aber gerade während der Corona-Pandemie überdeutlich.
Darüber hinaus erfährt die Notwendigkeit der Kompetenzerweiterung im Lehrerkollegium verstärkt Relevanz. Neben des dringend benötigtem digitalen Wissens gewinnt auch der didaktische Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Klassengefüge zunehmend und unausweichlich an Bedeutung.
Nicht zuletzt braucht es Maßnahmen zur Integration von Lehrkräften mit Zuwanderungsbiographien, die durch Nachqualifizierungskurse oder Begleitprogramme für den Seiteneinstieg und zur Unterstützung von Pädagog*innen und Schüler*innen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen Schuldienst eingesetzt werden können.
Punkt 5: Es braucht mehr wohlwollenden Pragmatismus bei der Anerkennung von Berufserfahrungen, Kompetenzen und Qualifikationen von Migrant*innen
Praktisch alle erwachsenen Migrant*innen waren in ihren Herkunftsländern beruflich tätig. [1] [2] [3] [4] Ob formal ausgebildet oder nicht, bringen sie Qualifikationen, Kompetenzen und Erfahrungen mit, die jedoch selten ausreichend belegt sind und daher auch kaum als solche anerkannt werden. Angesichts der Bedeutung beruflicher Tätigkeit für die Integration einerseits sowie den schon jetzt bestehenden Mangel an Fachkräften in Handwerks-, Pflege- und Bildungsberufen andererseits, ist hier deutlich mehr wohlwollender Pragmatismus bei der Anerkennung beruflicher Qualifikationen von Migrant*innen gefragt.
Punkt 6: Migrant*innen müssen nicht nur für die Teilnahme sondern auch für die Mitwirkung an kulturellen Angeboten gewonnen werden
Es gibt diverse Angebote für Menschen mit Migrationsgeschichte im Sinne der Teilnahme an kulturellen Formaten. Diese werden jedoch nicht im angedachten Umfang wahrgenommen und genutzt. Hier kann es nicht nur darum gehen, kulturelle Angebote zugänglich zu machen und Migrant*innen als Teilnehmende zu gewinnen. Vielmehr müssen kulturelle Angebote als solche diversifiziert werden. Es gilt, Themen aber auch Formate in Theater, Oper und Museum zu hinterfragen und gemeinsam mit Migrant*innen zu bearbeiten.
Punkt 7: Migrant*innen muss die Beteiligung an der politischen Aushandlung der Zukunft ihres neuen Heimatlandes ermöglicht werden
Rund 100.000 dauerhaft in Sachsen-Anhalt lebende Menschen dürfen nicht wählen, da sie ausschließlich über einen ausländischen Pass verfügen und einem Drittstaat angehören. Und das, obwohl sie in ihrer Eigenschaft als Bewohner*in eines bestimmten Gebiets und/oder als Steuerzahler*in, in jedem Fall aber als Betroffene von Entscheidungen Ansprüche auf politische Beteiligung haben. Alle Menschen, die dauerhaft in Sachsen-Anhalt leben, gleich welchen Pass sie besitzen, müssen auf kommunaler Ebene wählen und sich zur Wahl stellen lassen können, so wie dies in 14 der 27 EU-Staaten bereits unaufgeregte Praxis ist.[2]
Punkt 8: Zugangsbarrieren bei der Gesundheitsversorgung von Migrant*innen müssen abgebaut werden
Auf individueller Ebene stellen sprachliche Barrieren, kulturelle Besonderheiten sowie eine im Vergleich geringere Ressourcenausstattung, auf institutioneller Ebene die noch immer ungenügende Ausrichtung auf die Heterogenität der Zielgruppe Hindernisse für viele Migrant*innen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen dar. Das macht sich nicht nur aber insbesondere bei der Wahrnehmung präventiver Angebote bemerkbar, die im Vergleich zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft deutlich geringer ausfällt.
Qualifizierte Sprachmittlung, interkulturelle Sensibilität und, wo nötig, finanzielle Unterstützung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsmaßnahmen sind buchstäblich von lebenswichtiger Bedeutung für Migrant*innen.
Punkt 9: Rassismus ist nicht (nur) als individuelle Einstellung anzusehen, sondern muss als strukturell verankerte Praxis in unserer Gesellschaft identifiziert werden
Nur die Wahrnehmung und Anerkennung dessen kann eine Grundlage bieten, rassistische Strukturen langfristig abzubauen und ihnen mit entsprechenden Maßnahmen aktiv und konsequent entgegenzutreten. Neben einem Landesantidiskriminierungsgesetz und dem strukturellen Ausbau bereits bestehender Antidiskriminierungsangebote, sind die Etablierung unabhängiger Beschwerdestellen, in Bereichen, welche nicht durch das AGG geregelt sind, sowie die Verankerung rassismuskritischer Themen in den Curricula von Schulen und Universitäten von großer Bedeutung.
Punkt 10: Transkulturalität muss der Gestaltung unseres Zusammenlebens konzeptuell zugrunde liegen
Zu uns kommen Menschen, denen unsere Art zu leben in vielen Bereichen unbekannt ist. Statt sie ständig daran zu erinnern, sie zu belehren und zur Anpassung aufzufordern, sollte die durch Zuwanderung entstehende Vielfalt als etwas Gutes und erstrebenswertes betrachtet werden. Denn eine vielfältige Gesellschaft ist nicht nur eine reiche sondern auch eine resiliente Gesellschaft.
Damit das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft gelingt, braucht es Transkulturalität als grundlegende Haltung bei allen gestaltenden Maßnahmen. Die Begegnung unterschiedlicher Kulturen darf nicht zur Verfestigung kultureller Grenzen führen, sondern muss deren Abbau zum Ziel haben.
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[1] Leibniz‐Institut für Länderkunde (IfL): „Potentiale gesteuerter Zuwanderung für eine nachhaltige Landesentwicklung in Sachsen-Anhalt“, Leipzig 2020.
[2] Ein aktives und passives Wahlrecht gewähren Belgien, Dänemark, Finnland, Irland, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, Slowakei und Spanien. Lediglich ein passives Wahlrecht gibt es in Estland, Litauen, Slowenien und Ungarn.
10-Punkte-Papier als PDF-Download
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